Montag, 22. April 2024
Zu den elementaren Dingen, über die nach meinem Empfinden viel zu selten gesprochen wird, gehören die Themen "Individuum", "Kollektiv" und das Verhältnis beider zueinander. Jedenfalls kann ich mich nicht entsinnen, dass auch nur eine Unterrichtsstunde meiner 13-jährigen Schulzeit diesem Themenkomplex gewidmet war. Überhaupt halte ich es für den größten Frevel unseres "Erziehungssystem", dass man das freie, selbstbestimmte Individuum nicht wesentlich zu fördern versucht. Man versucht, möglichst viel Wissen in das Individuum reinzuprügeln; die spirituelle, innerpsychische Dimension des Mensch-Seins aber bleibt im Großen und Ganzen auf der Strecke. Man muss relativ viel Glück mit seinen Eltern und sonstigen Bezugspersonen in seinem Leben haben, um hier etwas "Nahrung" abzubekommen. Viel Glück wünsche ich auch jedem bei der Wahl der Bücher, die man liest.

Ich habe mich ein Leben lang an diesem elementaren Problem gerieben und konnte es nicht lösen: In Situationen, in denen ich meine Erscheinung in der Öffentlichkeit als "peinlich" empfand -- zB weil ich einen großen, roten Pickel auf der Nase hatte --, wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte. Das Aushalten von Peinlichkeiten, das Aushalten von Unannehmlichkeiten, überhaupt das Aushalten von Schmerzen oder unangenehmen Emotionen, ist zwar grundsätzlich immer möglich, und man kann sich immer irgendwie zusammenreißen und sich selbst durch eine Unannehmlichkeit durchpeitschen. -- Oder man peitscht sich gerade nicht durch und ist so intelligent, seine Aufmerksamkeit auf positive Dinge zu richten. -- Aber ich wußte nicht, in welcher Richtung ich einen grundsätzlichen, tiefen, inneren Fortschritt in Richtung "Freiheit" erwarten durfte. Ich wußte keinen Behandlungsansatz, um das Grundproblem besser zu beherrschen. Die Forderung, die ich an mich selbst stellte, war immer eine Maximalforderung: Es müsse mir doch eigentlich scheißegal sein, was die anderen über mich denken! -- Aber das war es nicht. Ich konnte mir diese Forderung 100x selbst ins Ohr schreien, doch die Wirkung war praktisch Null.

Heute bin ich ein Schritt weiter und glaube zu wissen, was ich falsch gemacht habe. Ich hatte einfach nicht erkannt, dass es ein Grundbedürfnis in mir gibt, mich mit dem Kollektiv, in dem ich lebe, harmonisch zu arrangieren. Was ich stattdessen versucht hatte, war, das Kollektiv in seiner Gänze zum Teufel zu jagen und mir alles scheißegal sein zu lassen. Ich hatte versucht, mich komplett "abzukoppeln", doch dies stand eben in Konflikt zu einer tieferen Willensschicht in mir. Nun weiß ich eine viel bessere Formel. Ich weiß eine Formel, die funktioniert: Ich sage mir, dass ich als Individuum auch das Recht habe, neue Standards, neue Normen, zu setzen. Dadurch löse ich mich nicht komplett aus dem Kollektiv heraus, ich wechsel nur meine Rolle und bin ein möglicherweise veränderndes Element im Kollektiv. -- Das ist gewissermaßen ein komplett anderer Ansatz. Ich versuche nichts mehr mit Gewalt abzuschneiden. Individuum-Sein und Kollektivmitglied-Sein ist für mich keine Entweder-Oder-Frage mehr.



Die gesamte Trans-Problematik ist genau ein solches Problem. Hier treten Individuen auf, die sich anschicken, die Gesellschaft umzugestalten. Jahrtausende alte Gewissheiten sollen nun über den Haufen geschmissen werden. "Mann" und "Frau" sollen plötzlich anders definiert werden. Ja, es soll sogar eine Anerkennungspflicht für jedermann geben. Die neue Realität soll in alle Hirne des Kollektivs hinein! Ja, es gibt auch weibliche Penisse! Ja, Du musst Dich jetzt mit mir zusammen umziehen! -- Abgesehen von diesen grotesken Übertreibungen habe ich viel Respekt vor der Kraft und dem Selbstbewusstsein hinter diesen Forderungen, wenn auch einiges dieser Kraft schlicht das Ergebnis von Leidensdruck ist. Der Versuch der gesellschaftlichen Umgestaltung ist völlig legitim, solange sie auf Gewalt verzichten. Aber genauso legitim ist es, wenn es Gegenspieler gibt, die genauso selbstbewusst von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen.



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