Donnerstag, 31. August 2017

Frau Özoguz hat Recht. Zumindest hat sie sehr viel Recht. Deutsche Kultur ist schwer zu identifizieren. – Denn Kultur ist grundsätzlich sehr schwer zu "identifizieren".

Man versuche mal, mit Sprache seine Lieblingsmusik zu beschreiben. Oder seinen Lieblings-Orange-Ton, der irgendwo zwischen Hellorange und Dunkelorange liegt. Oder die Form einer Wolke. Oder auch nur sein äußeres Erscheinungsbild. Man wird hier mittels Sprache die Realtät immer nur ankratzen können. Darüber hinaus wird man kläglich scheitern. Aber das heißt nicht notwendigerweise, dass seine Lieblingsmusik, sein Lieblingsorange, eine spezifische Wolke oder das eigene Erscheinungsbild nicht existieren...

Dewegen rate ich auch grundsätzlich davon ab, zuviel über deutsche (oder sonstige) Kultur zu reden. Das ist wie eine Falle, in die man tappt, und die man sich auch selbst verfangen kann. Und es stimmt: Sehr oft gerät man dann in lächerliche Fahrwasser, in denen man stumpfsinnig auf Klischees beharrt. Man kann höchstens ein paar Schlaglichter heraus greifen und darf es auch mit diesen nicht zu ernst nehmen. Mehr gibt Sprache nicht her. Dafür ist die Sache zu komplex, zu graduell, zu subtil, und mit weichen Grenzen (was uns leicht dazu verfühen kann, eine Sache ganz zu leugnen).

Wer dazu aufgefordert wird, mal ein paar deutsche Eigenschaften aufzuzählen, der weise die Aufforderung zurück und fordere im Gegenzug dazu auf, mehr durch die Welt zu reisen.

Zu welchem Schluss kommt nun ein Mensch, der viel durch die Welt gereist ist? (Außer jetzt mal wieder Nietzsche, wenn er die größte Gemeinsamkeit aller Menschen heraus hebt...)

Ich weiß es nicht, denn ich bin leider noch nicht so viel gereist. (Möchte mir jemand die ein oder andere Reise spendieren? Vielleicht heilt mich das von meiner rechten Gesinnung?...)

Bezüglich "Kultur" habe ich die gleiche Einstellung wie zu der Frage nach einem "lebendigen Wir": Es geht hier nicht nur darum, passiv zu fragen, was "objektiv gegeben" ist. Es ist dies auch ein Feld, auf dem man Realität machen kann, auf dem man nach Möglichkeiten Ausschau halten sollte. Die Frage ist, wie "wir" sein wollen.

Die bisher sich gebildeten Klischees vom "Deutschen" als ordnungsliebend, als Dichter und Denker, als tiefgründig, halte ich in diesem Sinne für gute Anknüpfungspunkte. – Sie sind zumindest nach meinem Geschmack.

Das neue Image der Deutschen erscheint mir dagegen das Resultat einer Degeneration: Man verbindet uns im Ausland teilweise einfach mit "Party, Party, Party". (Ich glaube, das liegt daran, dass an Schulen zu wenig Philosophie gelesen wird...)

Ich habe von deutschen Auswanderern gehört, die nach Deutschland zurück gekehrt sind, weil sie es vermissten, auch mal ein tiefgründiges Gespräch zu führen. (Mir ist das im Manchester durchaus gelungen – aber da war ich ja auch Gast in einer buddhistischen Kommune...)


Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches, Zweiter Band, Erste Abteilung: Vermischte Meinungen und Sprüche, 323. Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen

Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen. – Das, worin man die nationalen Unterschiede findet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener Kulturstufen und zum geringsten Teile etwas Bleibendes (und auch dies nicht in einem strengen Sinne). Deshalb ist alles Argumentieren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend für den, welcher an der Umschaffung der Überzeugungen, das heißt an der Kultur arbeitet. Erwägt man zum Beispiel, was alles schon deutsch gewesen ist, so wird man die theoretische Frage: was ist deutsch? sofort durch die Gegenfrage verbessern: »was ist jetzt deutsch?« – und jeder gute Deutsche wird sie praktisch, gerade durch Überwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab; bleibt es stehen, verkümmert es, so schließt sich ein neuer Gürtel um seine Seele; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängnis herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist dies ein Beweis, daß es versteinern will und ganz und gar Monument werden möchte: wie es von einem bestimmten Zeitpunkte an das Ägyptertum war. Der also, welcher den Deutschen wohlwill, mag für seinen Teil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen.


Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches, Zweiter Band, Erste Abteilung: Vermischte Meinungen und Sprüche, 324. Ausländereien

Ausländereien. – Ein Ausländer, der in Deutschland reiste, mißfiel und gefiel durch einige Behauptungen, je nach den Gegenden, in denen er sich aufhielt. Alle Schwaben, die Geist haben, – pflegte er zu sagen – sind kokett. – Die anderen Schwaben aber meinten noch immer Uhland sei ein Dichter und Goethe unmoralisch gewesen. – Das Beste an den deutschen Romanen, welche jetzt berühmt würden, sei, daß man sie nicht zu lesen brauche: man kenne sie schon. – Der Berliner erscheine gutmütiger als der Süddeutsche, denn er sei allzusehr spottlustig und vertrage deshalb Spott: was Süddeutschen nicht begegne. – Der Geist der Deutschen werde durch ihr Bier und ihre Zeitungen niedergehalten: er empfehle ihnen Tee und Pamphlete, zur Kur natürlich. – Man sehe sich, so riet er, doch die verschiedenen Völker des altgewordenen Europa daraufhin an, wie ein jedes eine bestimmte Eigenschaft des Alters besonders gut zur Schau trägt, zum Vergnügen für die, welche vor dieser großen Bühne sitzen: wie die Franzosen das Kluge und Liebenswürdige des Alters, die Engländer das Erfahrene und Zurückhaltende, die Italiener das Unschuldige und Unbefangene mit Glück vertreten. Sollten denn die anderen Masken des Alters fehlen? Wo ist der hochmütige Alte? Wo der herrschsüchtige Alte? Wo der habsüchtige Alte? – Die gefährlichste Gegend in Deutschland sei Sachsen und Thüringen: nirgends gäbe es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntnis, nebst Freigeisterei, und alles sei so bescheiden durch die häßliche Sprache und die eifrige Dienstbeflissenheit dieser Bevölkerung versteckt, daß man kaum merke, hier mit den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern in Gutem und Schlimmem zu tun zu haben. – Der Hochmut der Norddeutschen werde durch ihren Hang, zugehorchen, der der Süddeutschen durch ihren Hang, sichs bequem zu machen, in Schranken gehalten. – Es schiene ihm, daß die deutschen Männer in ihren Frauen ungeschickte, aber sehr von sich überzeugte Hausfrauen hätten: sie redeten so beharrlich gut von sich, daß sie fast die Welt und jedenfalls ihre Männer von der eigens deutschen Hausfrauen-Tugend überzeugt hätten. – Wenn sich dann das Gespräch auf Deutschlands Politik nach außen und innen wendete, so pflegte er zu erzählen – er nannte es: verraten –, daß Deutschlands größter Staatsmann nicht an große Staatsmänner glaube. – Die Zukunft der Deutschen fand er bedroht und bedrohlich: denn sie hätten verlernt, sich zu freuen (was die Italiener so gut verstünden), aber sich durch das große Hazardspiel von Kriegen und dynastischen Revolutionen an die Emotion gewöhnt, folglich würden sie eines Tages die Emeute haben. Denn dies sei die stärkste Emotion, welche ein Volk sich verschaffen könne. – Der deutsche Sozialist sei eben deshalb am gefährlichsten, weil ihn keine bestimmte Not treibe; sein Leiden sei, nicht zu wissen, was er wolle, so werde er, wenn er auch viel erreiche, doch noch im Genusse vor Begierde verschmachten, ganz wie Faust, aber vermutlich wie ein sehr pöbelhafter Faust. »Den Faust-Teufel nämlich,« rief er zuletzt, »von dem die gebildeten Deutschen so geplagt wurden, hat Bismarck ihnen ausgetrieben: nun ist der Teufel aber in die Säue gefahren und schlimmer als je vorher!«




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