Unten ein paar Nietzsche-Zitate. Die ersten zwei betonen den Aspekt der persönlichen Beziehung eines Individuums zur Moral. (Entsprechende Stellen sind fett hervorgehoben.) Nietzsche möchte offenbar das Individuum stärken und es ermuntern, sich seine eigene Moral zu bilden.
Ich halte dies für eine wertvolle Anregung und es ist in einem weiteren Sinne auch nur die Anwendung eines Standardthemas für alle Philosophen: Sie alle möchten zu einem tieferen und gründlicheren Nachdenken anregen. Aber an einem Punkt schießt Nietzsche für mich über das Ziel hinaus. Nämlich dort, wo er das "Gute an sich" als bloßes Hirngespinst darstellt (siehe 2. Zitat). Die Art und Weise, wie er es ausführt, scheint zwar insgesamt stimmig. Er überzeugt mich, wenn er die Frage stellt: "Was zerstört schneller, als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen?" – Aber den Begriff vom "Guten an sich", den lasse ich mir deshalb noch nicht kaputt machen. Und dies halte ich für sehr wichtig. Ich spüre, dass meine seelische Gesundheit davon abhänigig ist, an "das Gute" zu glauben, das "objektiv" ist. Das weder von mir, noch einem anderen, noch von irgendwelchen Zielsetzungen abhänigig ist. All das, was ich im moralischen Sinne "gut" nenne, ist in meinem Glauben zu ca. 90% objektiv. Ich bin offen dafür, dass ich mich vielleicht in einigen Dingen täusche, und ich habe es auch nicht nötig, meine Normen für alle Welt verbindlich zu erklären. Aber es ist eben auch mein persönliches Verhältnis zur Moral, dass ich hier an eine gewisse Objektivität der Werte glaube. Siehe z.B. auch die "Goldene Regel": Behandle andere, wie Du selbst behandelt werden willst. Die Wahrheit über "das Gute" ist letztlich sogar ein bißchen langweilig. Im Großen und Ganzen stimmen die etablierten Anschauungen. "Liebe", Opferbereitschaft, Verzichten, Teilen, Mitgefühl, das Denken an andere (Menschen wie Tiere) – all das sind gute Hinweise. Natürlich betreibt der Mensch mit seinem komplizierten Ego auch häufig Mißbrauch und Selbsttäuschungen um diese Begriffe, aber das ändert nichts an der prinzipiellen Richtigkeit dieser Denkrichtung.
Ich versuche immernoch, Stellen bei Nietzsche zu entdecken, in denen er offen für dieses Denken ist, aber ich habe sie bisher nur mit viel gutem Willen in einigen Nebensätzen und Adjektiven als Andeutungen "gefunden" – im Grunde zu wenig, um es ihm wirklich zuzurechnen. Stattdessen findet man zwar eine allgemeine Wertschätzung der Moral, aber nur in einem sehr technisch funktionalen und psychologischen Sinne. Sie scheint für ihn nur Mittel zum Zweck zu sein. Er nennt sie z.B. "Medizin". Er sieht sie eigentlich immer im Kontext von Evolution. Er sieht sie wohl überhaupt nur in irgendeinem Kontext, also wenn es irgend ein "hohes Ziel" gibt. Das "an sich" gibt es für ihn in der Moral nicht. Das "Gute" als Selbstzweck, als höhere Form von Schönheit, kennt er nicht – also, darf man folgern?: er kennt "das Gute" überhaupt nicht?
Nichtsdestotrotz ist sein Scharfsinn beeindruckend. Innerhalb seines "beschränkten" Moralverständnisses ist er ein Meister psychologischer Analyse und immernoch eine Inspiration. Siehe Zitate 3 und 4.
1)
Nietzsche, Friedrich, Morgenröte, Zweites Buch, 107. Unser Anrecht auf unsere Torheit
… Und wenn die Vernunft der Menschheit so außerordentlich langsam wächst, daß man dieses Wachstum für den ganzen Gang der Menschheit oft geleugnet hat: was trägt mehr die Schuld daran als diese feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der individuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar nicht gestattet, laut zu werden? Sind wir nicht darauf hin erzogen, gerade dann pathetisch zu fühlen und uns ins Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten.
2)
Nietzsche, Friedrich, Der Antichrist, 11
Ein Wort noch gegen Kant als Moralist. Eine Tugend muß unsre Erfindung sein, unsre persönlichste Notwehr und Notdurft: in jedem andern Sinne ist sie bloß eine Gefahr. Was nicht unser Leben bedingt, schadet ihm: eine Tugend bloß aus einem Respekts-Gefühle vor dem Begriff »Tugend«, wie Kant es wollte, ist schädlich. Die »Tugend«, die »Pflicht«, das »Gute an sich«, das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit – Hirngespinste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftigung des Lebens, das Königsberger Chinesentum ausdrückt. Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachstumsgesetzen geboten: daß jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde. Ein Volk geht zugrunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbegriff überhaupt verwechselt. Nichts ruiniert tiefer, innerlicher als jede »unpersönliche« Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion. – Daß man den kategorischen Imperativ Kants nicht als lebensgefährlich empfunden hat!... Der Theologen-Instinkt allein nahm ihn in Schutz! – Eine Handlung, zu der der Instinkt des Lebens zwingt, hat in der Lust ihren Beweis, eine rechte Handlung zu sein: und jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden verstand die Lust als Einwand... Was zerstört schneller, als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen? als Automat der »Pflicht«? Es ist geradezu das Rezept zur décadence, selbst zum Idiotismus... Kant wurde Idiot. – Und das war der Zeitgenosse Goethes! Dies Verhängnis von Spinne galt als der deutsche Philosoph – gilt es noch!... Ich hüte mich zu sagen, was ich von den Deutschen denke...
3)
… oder daß sie umgekehrt, nachdem ihnen die Wahrheit aufgegangen ist, daß bei verschiedenen Völkern die moralischen Schätzungen notwendig verschieden sind, einen Schluß auf Unverbindlichkeit aller Moral machen: was beides gleich große Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist, daß sie die vielleicht törichten Meinungen eines Volks über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral aufdecken und kritisieren, also über deren Herkunft, religiöse Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisiert zu haben. Aber der Wert einer Vorschrift »du sollst« ist noch gründlich verschieden und unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrtums, mit dem sie vielleicht überwachsen ist: so gewiß der Wert eines Medikaments für den Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst aus einem Irrtume gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres Wertes noch nicht einmal berührt. – Niemand also hat bisher den Wert jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu zuallererst gehört, daß man ihn einmal – in Frage stellt. Wohlan! Dies eben ist unser Werk. –
4)
Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die »Natur«, auch gegen die »Vernunft«: das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müßte denn selbst schon wieder von irgendeiner Moral aus dekretieren, daß alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, daß sie ein langer Zwang ist: um den Stoizismus oder Port-Royal oder das Puritanertum zu verstehn, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht – des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wieviel Not haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! – einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt – »um einer Torheit willen«, wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, – »aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze«, wie die Anarchisten sagen, die sich damit »frei«, selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Tatbestand ist aber, daß alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden gibt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der »Tyrannei solcher Willkür-Gesetze« entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, daß gerade dies »Natur« und »natürlich« sei – und nicht jenes laisser aller! Jeder Künstler weiß, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein »natürlichster« Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der »Inspiration« – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulierung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges –). Das Wesentliche, »im Himmel und auf Erden«, wie es scheint, ist, nochmals gesagt, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit – irgend etwas Verklärendes, Raffiniertes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der mißtrauische Zwang in der Mitteilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wiederzuentdecken und zu rechtfertigen – all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: zugegeben, daß dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden mußte (denn hier wie überall zeigt sich »die Natur«, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Großartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). …
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