Sternen-Freundschaft. – Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so, und wir wollen's uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es getan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in einem Hafen und in einer Sonne, daß es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche, und vielleicht sehen wir uns nie wieder – vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert! Daß wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz über uns: eben dadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden! Es gibt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Kurve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen sein mögen – erheben wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben ist zu kurz und unsre Sehkraft zu gering, als daß wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. – Und so wollen wir an unsre Sternen-Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müßten.
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6
– Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die jasagend ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu tun hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht. Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen: das Ziel in allen dreien ist eine vornehme Kultur. – Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urteil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht »wollen«, die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man muß reagieren, man folgt jedem Impulse. In vielen Fällen ist ein solches Müssen bereits Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, – fast alles, was die unphilosophische Roheit mit dem Namen »Laster« bezeichnet, ist bloß jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagieren. – Eine Nutzanwendung vom Sehen-gelernt-haben: man wird als Lernender überhaupt langsam, mißtrauisch, widerstrebend geworden sein. Man wird Fremdes, Neues jeder Art zunächst mit feindseliger Ruhe herankommen lassen – man wird seine Hand davor zurückziehn. Das Offenstehn mit allen Türen, das untertänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Tatsache, das allzeit sprungbereite Sich-hinein-Setzen, Sich-hinein-Stürzen in andere und anderes, kurz die berühmte moderne »Objektivität« ist schlechter Geschmack, ist unvornehm par excellence. –
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Nietzsche, Friedrich, Morgenröte, Erstes Buch, 76. Böse denken heißt böse machen
Böse denken heißt böse machen. – Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite – großen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ. Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei jedem Menschen notwendig und regelmäßig machen zu wollen! Noch dazu bleibt es ein geheimgehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend: denn nicht alle haben den Mut Shakespeares, ihre christliche Verdüsterung in diesem Punkte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten getan hat. – Muß denn etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse heißen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, daß hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohltut, – man trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! – Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der »Teufel« Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, dank der Munkelei und Geheimtuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, – in einer dem Altertum unbegreiflichen Übertreibung, der später einmal auch noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei, vom Größten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihrethalben die Nachwelt urteilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Kultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes.
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Unten ein paar Nietzsche-Zitate. Die ersten zwei betonen den Aspekt der persönlichen Beziehung eines Individuums zur Moral. (Entsprechende Stellen sind fett hervorgehoben.) Nietzsche möchte offenbar das Individuum stärken und es ermuntern, sich seine eigene Moral zu bilden.
Ich halte dies für eine wertvolle Anregung und es ist in einem weiteren Sinne auch nur die Anwendung eines Standardthemas für alle Philosophen: Sie alle möchten zu einem tieferen und gründlicheren Nachdenken anregen. Aber an einem Punkt schießt Nietzsche für mich über das Ziel hinaus. Nämlich dort, wo er das "Gute an sich" als bloßes Hirngespinst darstellt (siehe 2. Zitat). Die Art und Weise, wie er es ausführt, scheint zwar insgesamt stimmig. Er überzeugt mich, wenn er die Frage stellt: "Was zerstört schneller, als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen?" – Aber den Begriff vom "Guten an sich", den lasse ich mir deshalb noch nicht kaputt machen. Und dies halte ich für sehr wichtig. Ich spüre, dass meine seelische Gesundheit davon abhänigig ist, an "das Gute" zu glauben, das "objektiv" ist. Das weder von mir, noch einem anderen, noch von irgendwelchen Zielsetzungen abhänigig ist. All das, was ich im moralischen Sinne "gut" nenne, ist in meinem Glauben zu ca. 90% objektiv. Ich bin offen dafür, dass ich mich vielleicht in einigen Dingen täusche, und ich habe es auch nicht nötig, meine Normen für alle Welt verbindlich zu erklären. Aber es ist eben auch mein persönliches Verhältnis zur Moral, dass ich hier an eine gewisse Objektivität der Werte glaube. Siehe z.B. auch die "Goldene Regel": Behandle andere, wie Du selbst behandelt werden willst. Die Wahrheit über "das Gute" ist letztlich sogar ein bißchen langweilig. Im Großen und Ganzen stimmen die etablierten Anschauungen. "Liebe", Opferbereitschaft, Verzichten, Teilen, Mitgefühl, das Denken an andere (Menschen wie Tiere) – all das sind gute Hinweise. Natürlich betreibt der Mensch mit seinem komplizierten Ego auch häufig Mißbrauch und Selbsttäuschungen um diese Begriffe, aber das ändert nichts an der prinzipiellen Richtigkeit dieser Denkrichtung.
Ich versuche immernoch, Stellen bei Nietzsche zu entdecken, in denen er offen für dieses Denken ist, aber ich habe sie bisher nur mit viel gutem Willen in einigen Nebensätzen und Adjektiven als Andeutungen "gefunden" – im Grunde zu wenig, um es ihm wirklich zuzurechnen. Stattdessen findet man zwar eine allgemeine Wertschätzung der Moral, aber nur in einem sehr technisch funktionalen und psychologischen Sinne. Sie scheint für ihn nur Mittel zum Zweck zu sein. Er nennt sie z.B. "Medizin". Er sieht sie eigentlich immer im Kontext von Evolution. Er sieht sie wohl überhaupt nur in irgendeinem Kontext, also wenn es irgend ein "hohes Ziel" gibt. Das "an sich" gibt es für ihn in der Moral nicht. Das "Gute" als Selbstzweck, als höhere Form von Schönheit, kennt er nicht – also, darf man folgern?: er kennt "das Gute" überhaupt nicht?
Nichtsdestotrotz ist sein Scharfsinn beeindruckend. Innerhalb seines "beschränkten" Moralverständnisses ist er ein Meister psychologischer Analyse und immernoch eine Inspiration. Siehe Zitate 3 und 4.
1)
Nietzsche, Friedrich, Morgenröte, Zweites Buch, 107. Unser Anrecht auf unsere Torheit
… Und wenn die Vernunft der Menschheit so außerordentlich langsam wächst, daß man dieses Wachstum für den ganzen Gang der Menschheit oft geleugnet hat: was trägt mehr die Schuld daran als diese feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der individuellen Frage nach dem Wozu? und dem Wie? gar nicht gestattet, laut zu werden? Sind wir nicht darauf hin erzogen, gerade dann pathetisch zu fühlen und uns ins Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten.
2)
Nietzsche, Friedrich, Der Antichrist, 11
Ein Wort noch gegen Kant als Moralist. Eine Tugend muß unsre Erfindung sein, unsre persönlichste Notwehr und Notdurft: in jedem andern Sinne ist sie bloß eine Gefahr. Was nicht unser Leben bedingt, schadet ihm: eine Tugend bloß aus einem Respekts-Gefühle vor dem Begriff »Tugend«, wie Kant es wollte, ist schädlich. Die »Tugend«, die »Pflicht«, das »Gute an sich«, das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit – Hirngespinste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftigung des Lebens, das Königsberger Chinesentum ausdrückt. Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachstumsgesetzen geboten: daß jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde. Ein Volk geht zugrunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbegriff überhaupt verwechselt. Nichts ruiniert tiefer, innerlicher als jede »unpersönliche« Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion. – Daß man den kategorischen Imperativ Kants nicht als lebensgefährlich empfunden hat!... Der Theologen-Instinkt allein nahm ihn in Schutz! – Eine Handlung, zu der der Instinkt des Lebens zwingt, hat in der Lust ihren Beweis, eine rechte Handlung zu sein: und jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden verstand die Lust als Einwand... Was zerstört schneller, als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen? als Automat der »Pflicht«? Es ist geradezu das Rezept zur décadence, selbst zum Idiotismus... Kant wurde Idiot. – Und das war der Zeitgenosse Goethes! Dies Verhängnis von Spinne galt als der deutsche Philosoph – gilt es noch!... Ich hüte mich zu sagen, was ich von den Deutschen denke...
3)
… oder daß sie umgekehrt, nachdem ihnen die Wahrheit aufgegangen ist, daß bei verschiedenen Völkern die moralischen Schätzungen notwendig verschieden sind, einen Schluß auf Unverbindlichkeit aller Moral machen: was beides gleich große Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist, daß sie die vielleicht törichten Meinungen eines Volks über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral aufdecken und kritisieren, also über deren Herkunft, religiöse Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisiert zu haben. Aber der Wert einer Vorschrift »du sollst« ist noch gründlich verschieden und unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrtums, mit dem sie vielleicht überwachsen ist: so gewiß der Wert eines Medikaments für den Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst aus einem Irrtume gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres Wertes noch nicht einmal berührt. – Niemand also hat bisher den Wert jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu zuallererst gehört, daß man ihn einmal – in Frage stellt. Wohlan! Dies eben ist unser Werk. –
4)
Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die »Natur«, auch gegen die »Vernunft«: das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müßte denn selbst schon wieder von irgendeiner Moral aus dekretieren, daß alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, daß sie ein langer Zwang ist: um den Stoizismus oder Port-Royal oder das Puritanertum zu verstehn, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht – des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wieviel Not haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! – einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt – »um einer Torheit willen«, wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, – »aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze«, wie die Anarchisten sagen, die sich damit »frei«, selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Tatbestand ist aber, daß alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden gibt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der »Tyrannei solcher Willkür-Gesetze« entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, daß gerade dies »Natur« und »natürlich« sei – und nicht jenes laisser aller! Jeder Künstler weiß, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein »natürlichster« Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der »Inspiration« – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulierung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges –). Das Wesentliche, »im Himmel und auf Erden«, wie es scheint, ist, nochmals gesagt, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit – irgend etwas Verklärendes, Raffiniertes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der mißtrauische Zwang in der Mitteilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wiederzuentdecken und zu rechtfertigen – all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: zugegeben, daß dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden mußte (denn hier wie überall zeigt sich »die Natur«, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Großartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). …
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Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, 59. Wir Künstler!
Wir Künstler! – Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Haß auf die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist; gerne denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese Dinge streift, so zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin – wir sind beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen, und mit den ungeweihtesten Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle Physiologie und dekretiert für sich insgeheim: »ich will davon, daß der Mensch noch etwas anderes ist, außer Seele und Form, nichts hören!« »Der Mensch unter der Haut« ist allen Liebenden ein Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und Liebeslästerung. – Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet, in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer Gottes und seiner »heiligen Allmacht«: bei allem, was von der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geologen, Physiologen, Ärzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und folglich einen Angriff – und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden! Das »Naturgesetz« klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes; im Grunde hätte er gar zu gern alle Mechanik auf moralische Willens- und Willkürakte zurückgeführt gesehn: aber weil ihm niemand diesen Dienst erweisen konnte, so verhehlte er sich die Natur und Mechanik, so gut er konnte, und lebte im Traume. Oh diese Menschen von ehedem haben verstanden zu träumen und hatten nicht erst nötig, einzuschlafen! – und auch wir Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem unserem guten Willen zum Wachsein und zum Tage! Es genügt zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfinden – sofort kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offnen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Türme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern – wir Nachtwandler des Tages! Wir Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- und Gottsüchtigen! Wir totenstillen, unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten!
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Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, 57. An die Realisten
An die Realisten. – Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierat aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Teil davon – oh ihr geliebten Bilder von Sais! Aber seid ihr nicht auch in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich? – und was ist für einen verliebten Künstler »Wirklichkeit«! Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur »Wirklichkeit« zum Beispiel – oh das ist eine alte, uralte »Liebe«! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgendeine Phantasterei, ein Vorurteil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran »wirklich«? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zutat davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet – eure gesamte Menschheit und Tierheit! Es gibt für uns keine »Wirklichkeit« – und auch für euch nicht, ihr Nüchternen –, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht ist unser guter Wille, über die Trunkenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt unfähig zu sein.
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