Freitag, 24. Oktober 2025
 in: Philosophie

Man vergleiche einmal diese beiden Würde-Begriffe: Zum einen diese heilige und viel gepriesene "Menschenwürde", zum anderen die "normale Würde", also die Würde ohne viel Lobpreisung und ohne "Mensch" davor.

Ich bin im Zuge meines Nachdenkens über unser Grundgesetz und die Menschenwürde auf diese Idee gekommen. Ich stellte die Frage, wieviel Würde denn nun vorhanden ist, in unserer ach so heiligen Menschenwürde (MW). Und es kam der Verdacht auf, dass die MW vielleicht gar keinen Anteil an dieser echten (normalen) Würde besitzt. Ist hier vielleicht nur Poesie am Werk? Schönrederei? Eine absichtliche Verdunklung ("Verklärung") der Wirklichkeit? Weil man etwas Quasi-Heiliges braucht, aber doch ein säkularer Staat sein will, und so hat man sich diese berüchtigte Formulierung einfallen lassen? Eine Formulierung, die verwirrt und unklar ist und dadurch "tief" wirkt?
Tief sein und tief scheinen. – Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern ins Wasser.
Nietzsche

Und haben wir bei all diesem Reden über die MW nicht auch vergessen, was die normale Würde ist? Und auch vergessen, dass diese normale Würde ein wichtiger Teil unseres Lebens sein sollte?

Die normale Würde ist veränderlich und vorrangig -- wenn nicht sogar ausschließlich -- von unserem eigenen Handeln abhängig. Sie ist also eine Würde, die lebt, die atmet. Sie ist eine Würde, die aufsteigen kann oder fallen. Sie kann wachsen oder verkümmern. Sie kann zugrunde gehen und sterben. Und sie kann wiederauferstehen. (Für genauere Details fragen Sie bitte den lieben Gott.)
Diese Würde ist -- wenn man es ein bißchen idealistisch zu Ende denkt -- wirklich nicht von außen "antastbar". Denn sie hängt allein von unseren eigenen Entscheidungen ab. Ein Mensch, der uns anspuckt, vermindert nicht unsere Würde, sondern seine eigene. Ein Mensch, der vergewaltigt, vermindert nicht die Würde des Opfers, sondern er tötet seine eigene. Die Nazis, die die Juden ermordert haben, haben nicht deren Würde angegriffen, sondern ihre eigene.

Ganz anders die "Würde des Menschen"! Soweit meine Antennen richtig funktionieren, soll das eine Würde sein, die alle Menschen absolut gleich macht, und die niemals verloren gehen kann. Sie kann auch nicht mehr oder weniger werden. Selbst der ekelhafte Vergewaltiger besitzt noch diese MW in genau dem gleichen Maße wie jeder andere.
Gleichzeitig aber folgt man diesem Aberglauben, dass man diese Würde von außen verletzen könnte. Daher formuliert man eine Pflicht des Staates, diese MW zu beschützen. In dieser Logik wird die "Würde" eines Opfers tatsächlich beschädigt, während der Täter im wesentlichen keine Würdeverletzung erleidet.

Die Behauptung, die MW sei "unantastbar", ist in dieser Logik offensichtlich also nicht als Tatsachenbehauptung gemeint, sondern als Wunsch- und Zielvorstellung, für die man arbeiten muss, um sie wahr zu machen. Das Grundgesetz wäre etwas leichter verständlich, wenn man nicht den Indikativ sondern den Konjunktiv benutzen würde: "Die Würde des Menschen sei unantastbar".
Es handelt sich also um eine Art "guter Vorsatz" und einen Akt der Selbstbindung. "Unantastbar" ist nicht die Würde, sondern der Vorsatz, sie zu schützen. Unantastbar ist diese Denkrichtung, dieses Kriterium der "Würde". Man hat etwas im Sinn, das man besser als "würdevolle Behandlung" bezeichnen sollte: Der Mensch hat immer ein Recht auf ein Mindestmaß an würdevoller Behandlung. Der Mensch hat immer ein Recht auf ein Mindestmaß an Respekt. Und dieser Respekt gebietet es, ihm einen Kernbereich von (Menschen)Rechten zuzugestehen, die ihm nicht genommen werden dürfen. Der Mensch hat ein unantastbares Recht auf Rechte.

Es prallen hier also ziemlich unterschiedliche Perspektiven aufeinander. Würde und Menschenwürde sind fast Gegensätze. Die eine fragt eher nach den Pflichten des Individuums. Die andere hat den Anspruch, Rechte zu begründen.

Ich halte es daher für falsch, sich ein Bild von "Menschenwürde" zu machen, als hätte jeder Mensch von Geburt ein gewisses Quantum von Würde mitbekommen. Denn die MW hat mit der normalen Würde schlicht nichts zu tun. Es ist nur eine poetische Formel, die uns im Kopf rumspukt. Man kann daraus keine tatsächliche Würde ableiten.

Die Formulierung des ersten Satzes unserer Rechtsordnung hat sachlich betrachtet vor allem eine Funktion: Der Mensch spricht sich selbst einen besonderen Status zu. Und dieser Status soll gewisse Rechte begründen. So weit gehe ich auch mit. Ich halte das für richtig. Nur ist die Formulierung missverständlich gewählt. Sie bringt uns auf Abwege. Sie hat Nebenwirkungen.

Der Anspruch, gewisse Kernrechte zu begründen, ist richtig. Sogar das Kriterium der Würde ist nicht ganz falsch, wenn man darunter das Recht auf Respekt und eine entsprechende Behandlung versteht. Doch man sollte das direkter ausdrücken. Man sollte es platter, banaler und dadurch leichter verständlich ausdrücken. Man sollte wortwörtlicher reden und nicht poetisch verklärt. Es gibt keine "Menschenwürde". Es gibt nur das Recht auf eine würdevolle Behandlung. Es gibt gewisse Kern-Rechte, die unantastbar sind.

Wer sich wirklich für die eigene Würde interessiert, der sollte sich an die normale Würde halten. Hier gibt es etwas zu tun. Die MW dagegen verführt zur Bequemlichkeit. Die Idee einer Würde-Garantie, die völlig unabhängig vom eigenen Handeln ist, bietet keinerlei Ansporn. Sie ist ungefähr so schädlich, wir der Glaube an eine "Sündigkeit", die völlig unabhängig vom eigenen Handeln ist. Man kann nichts tun. Der wesentliche Wert seiner selbst ist von Anfang festgelegt und das war's.

Formulieren wir den ersten Satz unserer Rechtsordnung um. Ich bin sicher, es gibt bessere Formulierungen.

Siehe auch: Die Würde des Menschen als ein unmöglicher Gedanke



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