Donnerstag, 14. September 2023
http://www.zeno.org/nid/20009250506

Das intellektuale Gewissen. – Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den allermeisten fehlt das intellektuale Gewissen; ja es wollte mir oft scheinen, als ob man mit der Forderung eines solchen in den volkreichsten Städten einsam wie in der Wüste sei. Es sieht dich jeder mit fremden Augen an und handhabt seine Waage weiter, dies gut, jenes böse nennend; es macht niemandem eine Schamröte, wenn du merken läßt, daß diese Gewichte nicht vollwichtig sind – es macht auch keine Empörung gegen dich: vielleicht lacht man über deinen Zweifel. Ich will sagen: die allermeisten finden es nicht verächtlich, dies oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewußt worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben – die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen »Allermeisten«. Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urteilen bei sich duldet, wenn das Verlangen nach Gewißheit ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Not gilt – als das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewissen Frommen einen Haß gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so verriet sich doch wenigstens noch das böse intellektuale Gewissen! Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Ungewißheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen und nicht fragen, nicht zittern vor[36] Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen – das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei jedermann suche – irgendeine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit.




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Donnerstag, 31. August 2023
Ich möchte mal ganz unbescheiden meine 1. Nietzschekategorie bewerben:
https://rreflektion.blogger.de/topics/Nietzsche1/

Ich finde, sie ist gut gelungen, und wird keine weitere Einträge mehr haben. Jetzt kommt die zweite Sammlung.



Mir fiel beim Lesen nochmal auf, dass Nietzsche die Moral wirklich (fast?) nur aus der Perspektive betrachtet, dass sie etwas sei, das irgend einen Sinn erfüllt; also ein anderen Sinn als die Moral. Bei Nietzsche kann die Moral kein Selbstzweck, kein Selbstsinn sein. Und damit hängt wohl auch zusammen (?), dass Nietzsche "das Gute an sich" nicht kennt. Oder man muss sagen: Er kennt weder die Moral als Selbstzweck, noch "das Gute an sich". Moral muss bei ihm irgend etwas sein, das von A nach B führt.

Zwar bejahe ich den Gedanken, dass wir uns hier in unserer Erdenexistenz in einer Art "Schule" befinden. Und dass wir mehrere Leben, mehrere Versuche haben, um zu lernen. -- Dass auch die Moral zu den Lernaufgaben in diesem (praktisch jedem) Leben gehört -- Sogar: Dass die Moral im "Paradies" gewissermaßen überwunden wird. Sie ist später nicht mehr notwendig.

Doch man kann allgemein sagen: Die Gültigkeit der Moral entspricht der Gütigkeit der Welt, in der man sich befindet. Und wie "gültig" ist der Schmerz, den man empfindet? Wie gültig ist die Freude, die man empfindet? usw.usw. --

Das ist der wahre Grund für unsere "Menschenrechte". Wir sind empfindsame Wesen. Nicht etwa irgend eine "Menschenwürde". Wir meinen damit in Wahrheit ja nur etwas wie: Der Mensch hat ein Recht auf Rechte. Und das stimmt natürlich total. Nur muss man dafür nicht unbedingt diese behämmerte Menschenwürde postulieren. Die uns zu der Beqeumlichkeit verführt, wir hätten ganz automatisch schon irgend eine relevante "Würde" an uns!! -- Haha!

Schönheit vielleicht. Eleganz.
Und "Unschuld".
Durchaus faszinierend.

Aber Würde?
Muss man die sich nicht verdienen?



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