Nietzsche, Friedrich, Morgenröte, Erstes Buch, 76. Böse denken heißt böse machen
Böse denken heißt böse machen. – Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite – großen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ. Ist es nicht schrecklich, notwendige und regelmäßige Empfindungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend bei jedem Menschen notwendig und regelmäßig machen zu wollen! Noch dazu bleibt es ein geheimgehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend: denn nicht alle haben den Mut Shakespeares, ihre christliche Verdüsterung in diesem Punkte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten getan hat. – Muß denn etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse heißen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, daß hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohltut, – man trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! – Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der »Teufel« Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, dank der Munkelei und Geheimtuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, – in einer dem Altertum unbegreiflichen Übertreibung, der später einmal auch noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei, vom Größten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet: vielleicht daß ihrethalben die Nachwelt urteilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Kultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes.
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