Sonntag, 28. Oktober 2018


Ab 6:14… (Thilo Sarazzin)
Die Wahrheit spaltet nie. Und diejenigen, die sagen, sie wollen nicht spalten, wollen die Wahrheit nicht in der ganzen Klarheit sehen. In meinem ganzen neuen Buch, spalte ich nirgendswo. Der Ton ist absolut zurückhaltend. Ich schildere Fakten, ich analysiere, ich mache Prognosen. Ich wäge ab. Da ist nichts Spalterisches. Es ist allerdings auch nicht sehr optimistisch. Ich verstehe, dass Sie als Lehrerin anders denken müssen. … … … Ja, man hat eine Verpflichtung, die Dinge zu beschreiben, wie sie ist. Wenn Sie Arzt sind und Sie haben eine ungünstige Diagnose, dann müssen Sie erstmal sagen 'Das ist die Diagnose' und da müssen die Lösungen des Arztes, müssen in dem Rahmen sein, in dem wir tatsächlich sein können
Mein Wahrheitsglaube trägt ja durchaus religiöse Züge. Ich glaube nicht nur daran, dass Wahrheit "existiert" und dass wir sie durch ehrliches Bemühen finden können – auch mit und in unserem vermeintlich so "subjektiven Geist". Ich glaube auch daran, dass Wahrheit in den allermeisten Fällen zur Harmonisierung, Gesundung und Weiterentwicklung des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens beiträgt. Wahrheit ist wie ein nährendes Licht, das uns führt. Wahrheit ist wie ein Heilmittel. Wahrheit ist wie ein Schatz, den es zu entdecken gilt. Wahrheit liegt immer auch in der Zukunft und sie verspricht uns eine gute Zukunft. – Wie schade nur, dass der allgemeine Wahrheitsglaube heute so schwach ist! Sowohl, was die Existenz von Wahrheit als auch ihren Wert angeht! (Ich denke in letzter Zeit immer öfter: Vielleicht ist das der einzige "Glaube", der uns retten kann, sodass wir ihn unbedingt wieder beleben sollten…)

Und doch habe ich gerade schon eine kleine Einschränkung zum Ausdruck gebracht, denn ich sagte: "in den allermeisten Fällen" tut Wahrheit etwas Gutes. Auch dieser lebendigste Glaube in mir ist nicht dogmatisch. Ich kann es akzeptieren, wenn es Ausnahmen gibt. Natürlich. Denn wenn das die Wahrheit über die Wahrheit ist, dann will mich auch hier ihr nicht entgegenstellen. Ich halte es für möglich, dass Wahrheiten manchmal auch zur ungünstigen Zeit kommen können und dann nicht ausschließlich positiv wirken. Ich gehe davon aus, dass die Voraussetzung für eine solche Möglichkeit die ist, dass die betreffenden Menschen noch nicht reif genug sind, geistig noch nicht hoch genug stehen oder fehlentwickelt sind. Und so bin ich grundsätzlich auch bereit, Sarazzin in seiner These "Die Wahrheit spaltet nie" zu widersprechen. Ob es sich bei seiner "journalistischen Arbeit" auch um einen solchen Fall handelt, in dem die gelieferte Wahrheit problematisch und sogar schädlich ist – darüber bin ich mir allerdings nicht ganz einig. Mein Bauchgefühl sagt mir, wir stehen insgesamt gerade so an einer Schwelle, teils darüber, teils darunter liegend. Wir sind gesamtgesellschaftlich fast schon reif genug für diese "brutale Wahrheitsmaschine", die sich Sarazzin nennt. (Ich sage nicht, er hat mit allem Recht. Aber ich glaube an seine intellektuelle Redlichkeit.) Und so muss ich unterm Strich eigentlich auch sagen, dass letztlich etwas Negatives an ihm hängen bleibt. Auch gehe ich davon aus, dass sein Wahrheitsglaube weniger religiös ist als meiner, d.h. er ist auch weniger "ganzheitlich", also gefühlskalt. Ich vermute, seine Vorliebe für "unangenehme Wahrheiten" kommt eher aus einer kalten und "reinen" Rationalität heraus. Eine Rationalität, die keinerlei Rücksicht auf irgendwas nimmt, erst recht nicht auf irgendwelche menschlich sentimentalen Befindlichkeiten. Keine Rücksicht auf das kleinliche Ego des Menschen, keine Rücksicht auf Stolz, keine Rücksicht auf religiöse Gefühle, überhaupt keine Rücksicht auf Gefühle. Auch keine Rücksicht auf mögliche Konsequenzen, egal welcher Art die auch sein mögen. Die Wahrheit wird gesagt, ob da Menschen dran zugrunde gehen oder nicht! – Es ist gut, so etwas zu können, wenn dies auch miteinschließt mit gleicher Härte gegen das eigene Ego operieren zu können. Aber es ist vielleicht nicht gut, allein davon getrieben zu sein. Und es ist vielleicht nicht gut, die Härte gegen sich selbst bei anderen allzu selbstverständlich vorauszusetzen. So wie Schwerverletzte am Unfallort belogen werden müssen – man soll ihnen immer sagen, dass alles gut wird, auch wenn man es selbst nicht glaubt –, und so wie man manchmal ein Kind belügen muss, um es aus einer Panik herauszuholen, so muss man manchmal eben auch unreife Erwachsene – und unsere Welt ist voll von unreifen Erwachsenen – belügen.

Von einzelnen Ausnahmen abgesehen – für die nur die nur die Gemäßigten noch offen sind; und das ist sehr erstrebenswert – ist aber Schonungslosigkeit das Gebot der Stunde. Ich gehe davon aus, dass dies eine Grundtendenz bei "Rechten" ist. Ich kann dies partiell auch bei mir wiedererkennen, parallel zu meinem religiös-ganzheitlichen, etwas milderen Wahrheitsglauben. Der Rechte ist auch von Trotz, Rebellion, Widerstand und Aufmüpfigkeit getrieben. Und man hat die Schnauze so voll. Immer dieses Rücksicht-Nehmen auf andere Befindlichkeiten! Immer diese Vorsicht! Immer dieser Zwang zur Political Correctness! Immer dieses partielle Zurückhalten und Verschweigen und Beschönigen, wenn es um irgendwelche Minderheiten oder sonstige Heiligtümer geht! Immer dieses hysterische, peinlich genaue Achten auf die Wortwahl, dieses Reden (und letztlich auch Denken) mit angezogener Handbremse! Immer diese sprachpolizeiliche Bevormundung in der Wortwahl, bis hin zu ganz realen Sanktionen und Repressionen (im sozialen Umgang, im Beruf)! – Nein! Schluss damit! Wir steuern jetzt mal genau in die entgegengesetzte Richtung und wählen gerade die Formulierungen und Wahrheiten aus, die der Gesellschaft – und auch uns selbst – am meisten weh tun! Je größer der Schmerz, desto besser. Je mehr Entsetzen, je mehr Aufschrei, desto größer unsere Lust und unser Triumph! – Soviel zu den anderen Rechten, bei denen die Schonungslosigkeit und das Schmerzen Zufügen auch mit Lust verknüpft ist. Bei Sarrazin ist es einfach nur kalte Rationalität. Allerdings frage ich mich schon, ob er nicht auch ein klein wenig von diesem Lustempfinden kennt.

Letztlich muss man natürlich einfach den Praxistest machen. Wie wirken die "Wahrheiten" (Thesen) von Sarrazin in der Gesellschaft? Wir wirkt seine mindestens teilweise berechtigte Kritik bei uns und bei den direkt Betroffenen, den Muslimen? Dringen bei ihnen auch ein paar Gedanken vor, die zu einer gesunden Selbst-Kritik führen könnten?
Hier kann ich nur wieder meine These und meine Überzeugung von der Wichtigkeit des Wahrheitsglaubens und der Schädlichkeit des Glaubensglaubens anbringen. Was mich zu dem Schluss führt: Nein. In den allermeisten Fällen ist der menschliche Geist, der vom Glaubenswahn befallen ist und aufgehört hat, selbständig die Wahrheit zu suchen, eben nicht in der Lage, Kritik an seiner Religion anzunehmen. Das gilt prinzipiell für alle Glaubensreligionen, auch für Christen. Die Voraussetzungen sind hier einfach nicht gegeben. Das Denken ist grundsätzlich gelähmt und die Lähmung des Denkens ist sogar ein Ideal, das man für ein gottgefälliges Verhalten ("Glauben") hält. Da kann ein Sarrazin noch so schonungslos auf Mißstände hinweisen. Es dringt nicht vor und führt wohl auf keiner Ebene zu irgend einer Verbesserung. Bei vielen führt es wohl dazu, dass die Kritisierten sich nur noch mehr in ihrer Religion verbarrikadieren. Andere sind sicherlich auch schon abgestumpft und blenden ihn einfach aus. Und dann gibt es sicherlich noch ein paar gute Geister, die zur Selbstkritik grundsätzlich fähig sind, aber aus dem Gefängnis ihres Glaubens dann doch nicht heraus können.



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Steht da tatsächlich: "Ich gehe davon aus, dass die Voraussetzung für eine solche Möglichkeit die ist, dass die betreffenden Menschen noch nicht reif genug sind, geistig noch nicht hoch genug stehen oder fehlentwickelt sind". . Oder habe ich den Satz jetzt aus dem Kontext gerissen. Und an eine "intellektuelle Redlichkeit" muss man nicht glauben. Da bin ich mir ziemlich sicher. Die kann man ja hinterfragen. Wobei alle dir hier Wirklichkeit machen wollen, egal ob von rechts oder links, eines nicht verstehen wollen. Dass hier ist ein Massengrab, in dem alle Überflüssigen und Untalentierten, bis auf ein zwei Ausnahmen, massenhaft abgewickelt werden durch Nichtbeachtung. Hier kommentieren dann nur noch jene denen zum Selbstmord der Mut fehlt. Zum Leben natürlich auch. Hier tatsächlich Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen ist völlig aussichtslos. Hier schreiben so Leute wie ich, die im Leben sonst überhaupt nix mehr machen. Wie sagte einst Thomas Mann: "Wo ich bin, ist deutsche Kultur". In dem Sinne kann man sagen. Dort wo ich schreibe geht's nicht mehr weiter. Schon gar nicht kulturell. Nur glaubt mir das keiner.

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Ich schon. Und vielleicht ist es ja gerade dieses Gefühl der Überflüssigkeit, dass diese Auswüchse hier gebiert. Diesen aggressiven Unterton, den wir hier (offen oder versteckt) zelebrieren, erklärt. (So wie Thomas Manns Bewusstsein seiner Kulturhaftigkeit manche seiner Texte so schwer genießbar macht.)

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Hallo imperialist!

Ja, der Satz steht da wirklich. Das ist praktisch gleich nochmal eine Demonstration meiner These, dass "Rechte" diese Lust am Anecken haben… an Wahrheiten und Sichtweisen, die weh tun, die problematisch sind…

Natürlich kann damit auch übertreiben und das habe ich hier wohl. Denn, wenn ich nochmal gründlicher drüber nachdenke, dann hat das doch nicht so viel mit Entwicklungszustand zu tun. Also irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht. Vielleicht macht es noch keinen Sinn, etwas von einer "geistigen Skala" zu erzählen, auf der es ein "oben" und ein "unten" gibt, solange wir alle mehrheitlich noch so tief im Schlamm kindischer Irrtümer stecken. Die Skala (Leiter) beginnt erst danach, wenn man aus diesem Schlamm raus ist und dann hat das alles eine ganz andere Qualität als die, die Du jetzt vielleicht vermutest.

Ich denke da öfter drüber nach. Ich bin ja eigentlich in erster Linie eine "spirituelle" Seele und keine politische. Aber ich versuche das eben auch zusammen zu bringen – was mir nur leidlich gelingt. Also in jedem Fall will ich hier kein Übermenschen-Untermenschen-Denken aufmachen (auch wenn der rechte Provokateur in mir daran seinen Spaß hätte).

Aber dass es geistige Entwicklung und ein "höher" und ein "weniger hoch" gibt. Oder ein "weiter entwickelt" und ein "weniger weit". Daran gibt es für mich keinen Zweifel. Wir erkennen ja auch an, dass der Erwachsene (in aller Regel) weiter entwickelt ist als der Jugendliche und der Jugendliche wiederrum weiter als das Kind. Man muss diesen Gedanken nur fortsetzen. Ich behaupte, es gibt Entwicklungszustände, zu denen sich der "Durchschnittserwachsene" von heute entwicklungstechnisch wie ein Kind verhält. Aber wie ich gerade schon sagte. Das ist im Moment vielleicht alles gar nicht relevant. Vielleicht ein Beispiel für eine Wahrheit, die zu früh ist. (Vielleicht auch nur Wunschdenken von mir.)

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