"Die Berührung der Unberührbaren" oder: "Das Problem der maximalen Toleranz"
Darum geht es in diesem Blog praktisch schon die ganze Zeit. Wo verläuft genau die Grenze zwischen tolerablen und nicht mehr tolerablen Verhaltensweisen? Wo verläuft die Grenze zwischen tolerablen und nicht mehr tolerablen Denkweisen? – Bereits die letzte Frage ist für mich unmittelbar schmerzhaft, denn eigentlich meine ich, dass man den Kopfinhalt eines Menschen nicht mit solch starken Wertungen überziehen sollte. Einen Menschen zurückweisen, ihn vielleicht sogar sozial ächten, weil er mit "falschen" oder "bösen" Gedanken herumläuft? Ich meine eigentlich, dass das grundfalsch ist. Jeder sollte doch denken dürfen, was er will. Wo kommen wir denn hin, wenn man in die Freiheit des Denkens hineingreift? Sind wir geistesgeschichtlich nicht gerade erst an dem Punkt angekommen, dass wir uns von jahrtausenden alten Dogmen frei gemacht haben? Dass wir uns die Freiheit des Denkens und die Freiheit der Meinungsäußerung mühevoll erkämpft haben? – Und nun sind wir drauf und dran, das alles wieder in den Müll zu schmeißen und alle Bescheidenheit zu vergessen?
Auf der anderen Seite bin ich selbst der Meinung, dass man sich z.B. vor Scientology in acht nehmen sollte. Oder vor den großen, tradierten Glaubensreligionen wie dem Christentum oder den Islam. Wenn diese Denkschulen zumindest "ein bißchen" als unberührbar gelten, dann hätte ich damit auch weniger ein Problem. – Allerdings verneine ich immer und überall den Akt, dass man die betreffenden Menschen behandelt, als seien es Menschen ohne Würde, Menschen ohne Rechte, Menschen ohne ein Recht auf demokratische Partizipation. Und genau das passiert ja hier mit den "Neurechten". Für mich ist das ein Skandal. Ein Versagen auf dem Feld der Menschlichkeit.
Das Problem der maximalen Toleranz, die für mich prinzipiell ein Ideal ist – man könnte das Ideal auch "maximale Freiheit für jeden" nennen –, ist also nicht ganz so einfach. Es ist mir bisher noch nicht gelungen, eine griffige Formel zu finden, durch die man dieses Problem lösen könnte. Ich weiß erstmal nur, dass es nicht einfach ist. Die Formel "Keine Toleranz für die Intoleranten" befriedigt mich nicht, und all die Simplifizierer im Internet – vor allem auf Twitter –, die glauben, dass damit alles geklärt sei, erscheinen mir über eine äußerst beschränkte Toleranz zu verfügen. Ich finde, es ist noch nichtmal gut geklärt, was "Toleranz" und "Intoleranz" eigentlich ist.
Nehmen wir z.B. eine Person, die beim Anblick eines schwulen Pärchens, welches in der Öffentlichkeit ein paar harmlose Zärtlichkeiten austauscht, Ekel, Verstörung und Irritation empfindet. Diese Empfindungen alleine sind aus meiner Sicht noch nicht moralisierbar. Sie sind vermutlich noch nichtmal durch "falsche Erziehung" erlernt, sondern sogar einfach "natürlich" (was in keiner Weise ein Argument dafür oder dagegen sein muss). Teilt diese Person diese inneren Empfindungen mit seiner Außenwelt, so fängt es an, schwierig zu werden. Das bloße Bekenntnis zu diesen Gefühlen ist an sich vielleicht noch nicht problematisch. Doch was ist, wenn diese Person beim Anblick des schwulen Pärchens unmittelbar ein "Ihhh!" ausruft? Was ist, wenn das schwule Pärchen dies wahrnimmt, wahrnehmen muss? Ist das dann schon ein Akt der Intoleranz? Und müssen wir gegenüber dieser Intoleranz intolerant sein? Oder hat man sogar ein Recht auf sein "Ihhh!"? Wer einen Schmerz empfindet, darf ja auch "Aua!" schreien.
Toleranz und Intoleranz hat auch etwas mit dem Raum zu tun, in dem etwas stattfindet bzw. stattfinden darf. Im öffentlichen Raum gelten andere Regeln als im Privaten. So sind wir fast alle intolerant gegenüber Menschen, die gerne splitternackt im Bus sitzen würden. Für Menschen mit ausgeprägten nudistischen Bedürfnissen gibt es nunmal spezielle Bereiche, z.B. FKK-Bereiche beim Baden. Auch bin ich intolerant gegenüber Leuten, die gerne in aller Öffentlichkeit Sex haben wollen. Sex darf stattfinden, wie man will – aber bitte nicht in der Öffentlichkeit. Wer unter freiem Himmel Sex haben will, muss sich wenigstens Mühe geben, nicht entdeckt zu werden.
Die maximale Intoleranz – also die Geisteshaltung, die ich am meisten verachte – greift sogar in den privaten Raum hinein. Diese häßliche Intoleranz findet man z.B. im Iran, wenn dort Schwule verfolgt werden, obwohl sie in den eigenen vier Wänden Sex hatten. In abgeschwächter Form findet man eine ähnliche Intoleranz aber auch bei uns.
Der private Raum ist für mich heilig. Daher kümmert es mich auch so stark, wenn dieser Zeitgeist versucht, in die Köpfe der Menschen hineinzugreifen, denn alles, was zu unserem "Geist" gehört, ist immer auch unser Privatraum. Ich halte es sogar für ein Verbrechen, einen Menschen gegen seinen Willen von der Tatsächlichkeit der Shoa überzeugen zu wollen. Es darf auch hier kein Glaubenszwang geben. Die öffentliche Holocaust-Leugung mag als bloße Tatsachenbehauptung gerne weiterhin verboten sein, doch wenn ein Mensch nicht daran glauben will, so muss er immernoch sagen dürfen, auch öffentlich: "Ich glaube nicht, dass dies passiert ist." Ein Satz, der mit "Ich glaube" beginnt, muss ohne jede Einschränkung weitergesponnen werden dürfen.
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