(Das Problem der maximalen Toleranz – oder: Was ist gut und was ist böse?)
Es ist wohl offensichtlich: Am Anfang aller Politik stehen menschliche Bedürfnisse. Z.B. möchte der Mensch essen und so wird es zu einer Aufgabe der Politik, dieses Bedürfnis so gut wie möglich zu befriedigen. Oder der Mensch möchte heiraten und so erfindet die Politik das Institut der Ehe und definiert gesetzliche Rahmenbedingungen.
Manchmal aber stehen sich auch unvereinbare Bedürfnisse gegenüber: Z.B. möchte ein Nudist immer und überall nackt sein, doch eine große Mehrheit in der Bevölkerung hat eben das (starke) Bedürfnis, nicht ständig auf nackte Menschen schauen zu müssen. So entsteht eine Art Kompromis, es bleiben Freiräume für Nudisten, z.B. in Form von FKK-Zonen, und im besten Fall kann sich jeder damit arrangieren. Zur Zeit leben Nudisten und Nicht-Nudisten in großem Frieden miteinander.
Könnte man das Beispiel auch auf Homosexuelle übertragen?: Die einen wollen ihre Homosexualität offen ausleben. Die anderen wollen sie einfach nicht vor Augen haben, wenigstens nicht in Form von konkreten Zärtlichkeiten. Könnte hier nicht auch ein ähnlicher Kompromis gefunden werden wie man ihn mit Nudisten gefunden hat? – Unser Zeitgeist ist hier gnadenlos fordernd. Das Dogma, dass Homosexuelle all die Rechte von Heterosexuellen haben müssen, ist eines der stärksten unserer Zeit. Doch wo genau ist der Unterschied zwischen oben dargestelltem Nudisten-Problem und einem analogen Homosexuellen-Problem?
Aus meiner Sicht ist der einzig relevante Unterschied eben die andere Bedürfnislage in der Bevölkerung. Der Anblick homosexueller Zärtlichkeiten mag viele irritieren – ich gehöre zu den vielen –, aber es irrtiert eben doch nicht so stark wie der Anblick eines nackten Menschen auf der Straße irritieren würde. Und das ist schon fast alles. Das Bedürfnis, ohne Ekel und Irritation über den Tag zu kommen, ist in dem einen Fall stärker, in dem anderen Fall schwächer. Jetzt kommt noch die zeitgeistliche Mode hinzu, dass man heutzutage unbedingt "tolerant" sein will, vor allem gegenüber Homosexuellen, und damit ist die Entscheidung in der Frage schon gefallen. – Ich übrigens entscheide mich auch dafür, die Irritation auszuhalten und in diesem Sinne "tolerant" zu sein. Aber ich folge keinem Dogma, sondern ich betrachte es eher als eine Art "Übung". Eine Übung in Bescheidenheit und eine Übung in Selbstüberwindung. Ich fahre damit sehr gut und bin entspannt genug, um homosexuelle Männer freundschaftlich umarmen zu können, oder sie in meinen Freundeskreis aufzunehmen. (Derzeit zähle ich drei homosexuelle Männer zu meinen freundschaftlichen Bekannten. Ich hoffe sehr, dass sie dieser Text nicht verstören würde.)
Der Zeitgeist, der die "Toleranz" gegenüber Homosexuellen befiehlt, ist aber ziemlich intolerant. Denn er vergisst, dass alle menschlichen Bedürfnisse gleichwertig sind. Das Bedürfnis derjenigen, die mit Homosexualität ein Problem haben, ist genauso gut oder schlecht wie das Bedürfnis von Homosexuellen, sich auch mit homosexuellen Zärtlichkeiten zeigen zu dürfen. Die Intoleranz dieses Zeitgeistes, die sich dieser Realitätsebene verschließt, verachte ich.
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Oder sind doch nicht alle menschlichen Bedürfnisse gleichwertig? – Das ist für mich die große Frage, von der alle Toleranz- oder Intoleranzurteile abhängen. Gibt es gute und böse Bedürfnisse? Gibt es Bedürfnisse von höherem Rang und Bedürfnisse von niederem Rang?
Es gibt definitiv gute und böse Absichten. Es gibt potentiell einen guten Willen und einen bösen Willen in uns. Es gibt den Fall, dass wir uns "vom Teufel reiten lassen" und es gibt den Fall, dass wir den Teufel abschütteln und "unschuldig" bleiben. Aber gibt es gute und böse Bedürfnisse?
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