Dienstag, 7. Juli 2020
http://www.zeno.org/nid/20009256245
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– Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die jasagend ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu tun hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht. Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen: das Ziel in allen dreien ist eine vornehme Kultur. – Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sich-herankommen-lassen angewöhnen; das Urteil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht »wollen«, die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man muß reagieren, man folgt jedem Impulse. In vielen Fällen ist ein solches Müssen bereits Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, – fast alles, was die unphilosophische Roheit mit dem Namen »Laster« bezeichnet, ist bloß jenes physiologische Unvermögen, nicht zu reagieren. – Eine Nutzanwendung vom Sehen-gelernt-haben: man wird als Lernender überhaupt langsam, mißtrauisch, widerstrebend geworden sein. Man wird Fremdes, Neues jeder Art zunächst mit feindseliger Ruhe herankommen lassen – man wird seine Hand davor zurückziehn. Das Offenstehn mit allen Türen, das untertänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Tatsache, das allzeit sprungbereite Sich-hinein-Setzen, Sich-hinein-Stürzen in andere und anderes, kurz die berühmte moderne »Objektivität« ist schlechter Geschmack, ist unvornehm par excellence.




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