Samstag, 29. Juni 2019

Da es immernoch Leute gibt, die sich an diesem vermeintlichen Skandal hochziehen:

Herr Gauland hat nicht gesagt, dass Hitler an sich ein Vogelschiss war. Herr Gauland hat gesagt, dass Hitler in Relation zur 1000-jährigen, deutschen Geschichte nur ein Vogelschiss war.

Das ist ein gewaltiger Unterschied. Aussagegegenstand ist nicht Hitler, sondern die deutsche Geschichte, das deutsche Wesen, die deutsche Identität. Über diesen Gegenstand hat er eine Aussage getroffen und er behauptet sinngemäß, dass das Ereignis Hitler eben keine große Aussagekraft über das "Deutsche" hat.

Zu diesem Schluss kommt man zumindest, wenn man ihm (gutwillig) zuhört.

Natürlich kann man sagen, dass die Ausdrucksweise bekloppt, extrem ungeschickt und möglicherweise auch respektlos ist. Und man kann auch sagen, dass man dem Aussageinhalt nicht zustimmt. Aber ihm die Aussage unterzuschieben, dass Hitler an sich nur ein Vogelschiss war, ist schlicht das Produkt mangelhaften Zuhörens.

Grundsätzlich würde ich jedem das Recht zusprechen, sich in der Selbst-Betrachtung auf die positiven Seiten zu konzentrieren. Ob es eine Einzelperson betrifft oder Gruppen, Großgruppen, Ethnien, Völker: Man hat das Recht, sich in seiner geistigen Ich- bzw. Wir-Bildung auf das Positive zu konzentrieren und das Negative von sich zu weisen. Wer von einer häßlichen Krankheit befallen ist, die einen entstellt, z.B. ein großer Tumor im Gesicht, der soll sich beim Blick in den Spiegel tapfer sagen dürfen: "Ich bin nicht dieser Tumor. Er hat keinerlei Aussagekraft über mich. Er ist im Vergleich zu meinem goldenen Seinskern nur ein Vogelschiss. Es ist nicht von Bedeutung, was ich da sehe, ganz egal, wie häßlich es ist." Entsprechend hat sich Gauland geäußert und das ist absolut legitim.

Doch dies ist die Zeit der pawlow'schen Hunde. Wenn man ihnen keine Trigger-Warnings gibt, flippen sie aus. Und die bloße Nähe zweier Worte wie "Hitler" und "Vogelschiss" vereitelt zuverlässig jede sachliche Sprachverarbeitung. Die inneren Glocken läuten viel zu laut, als dass sich da differenzierte Gedanken entfalten könnten. Man fletscht bereits die Zähne und wälzt Strategien, wie man seinen Gegner erlegen kann.

Ich würde Gauland in Bezug auf das deutsche Wesen und Hitler übrigens nur teilweise zustimmen. Ich glaube, dass das Ereignis Hitler doch etwas mehr Aussagekraft über uns hat als Vogelschiss. Ich weiß nicht genau inwiefern, aber ganz unbedeutend ist es nach meinem Bauchgefühl eher nicht.




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In einem haben Sie wirklich Recht: Das Skandalöse an Gaulands Aussage ist nicht ihr Inhalt, sonder Ihre Respektlosigkeit, umso mehr, als sie ihm nicht einfach aus Unprofessionalität passiert ist, sondern er sie bewusst eingesetzt hat - nicht nur, um seine politischen Gegner zu provozieren, sondern auch, um die Verharmloser der Nazizeit, also die Alt- und Neonazis, mit ins Boot zu holen.

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Diese These von der bewussten Provokation, wie sie ja häufig auf die AfD angewandt wird, glaube ich weniger. Ich glaube eher, das ist so eine 50-50 Mischung. Von all den provozierenden Aktionen in Worten und Taten sind auch sehr viele, wenn nicht die meisten, einfach spontan bzw. der Ausfluss eines psychischen Zustandes. Man hat z.B. das enge Korsett der PC (die strenge Kontrolle von dem, was noch erlaubt ist) so dermaßen satt, dass man überkorrigiert und den "Guten" in der Gesellschaft einfach auch mal etwas vor den Latz knallen will. Oder man will einfach mal für sich selbst die Ketten sprengen, man will, wenn man unter sich ist, einfach mal frei reden können, ohne ständig besondere Empfindlichkeiten von anderen berücksichtigen zu müssen. Das sind Bedürfnisse, die einfach auch mal befriedigt werden wollen. Ich persönlich glaube, das ist gar nicht so schlimm, ja vielleicht sogar mal notwendig.

Also ich würde der AfD eher noch eine solche psychologische (Selbst-)Kenntniss zutrauen, als dass sie sich bewusst auf das Niveau herablassen würde, auch Neonazis für sich gewinnen zu wollen und dafür Moralgrenzen zu unterschreiten. Natürlich hat niemand was gegen Wählerstimmen, und auch Neonazis sind Menschen mit teilweise legitimen Bedürfnissen, weswegen es letztlich auch okay ist, wenn diese irgendwo eine demokratische Vertretung finden. Aber ich würde wirklich eher darauf wetten, dass der "Populismus" der AfD ein klein wenig intelligenter und feiner ist, als dass sie bewusst Neonazis ins Auge fassen würde. Der Populismus ist ein klein wenig psychologischer. Auch ein klein wenig reflexhafter, spontaner, also weniger geplant, weniger bewusst, weniger berechnend; obwohl es das bewusst Berechende dabei wohl auch gibt, ich nehme an, es kam als zweites hinzu. Zuerst waren die Provokationen spontan.

"Ein Großteil der Menschen hat keine Lust mehr auf PC ; also geben wir es ihnen!" –
Das ist meiner Meinung nach viel eher ein bewusstes Motiv in der AfD als:
"Neonazis, wir sind Euch ähnlich, kommt zu uns!"

Und dann gibt es ja noch die spezifisch deutsche Situation, dass man kaum in der Lage dazu ist, sich selbst zu feiern oder nur etwas Positives in sich selbst sehen zu können. Man kann sich noch nichtmal geistig in irgend einer Weise selbst behaupten. Und dass man sehr viel auf Hitler schaut, und dass man äußerst unsicher hinsichtlich der eigenen Existenz ist. – Hier, bei dieser Thematik, entwickelt sich nochmal ein ganz eigenes Protestbedürfnis. Und auch hier wird einfach überkorrigiert.

Eigentlich geht es jeweils nur um die Übertreibungen einer Sache, ob jetzt in der PC im allgemeinen oder in der deutschen Vergangenheitsfixierung im besonderen. Doch in den Protesten gegen die sich wiederholenden Übertreibungen neigt man selbst wieder zur Übertreibung.

Ich finde z.B., dass Herr Höcke mit seiner Forderung nach einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad durchaus Recht hat; zu etwa 5-25%.

Und das mit dem Vogelschiss und Hitler – ich finde, das man muss man nicht so genau nehmen. Hat er die entsprechende Rede nicht auch frei gehalten? Der eigentliche Aussageinhalt war, wie gesagt, nicht: "Hitler war nur ein Vogelschiss." – Warum also ausflippen? Weil man es mißverstehen könnte? Weil wir "wissen", dass es mißverstanden werden will? Weil wir unseren Gegner kennen: Er ist ein schlechter, böser Mensch.?

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